Dialog 5 |
Gespräch zwischen einem Pfleger und einer Bewohnerin eines Seniorenheims
Situation: Frau Kaiser unterhält sich mit Florian Nowitzki über ihre Lebensgeschichte. Sie erzählt ihm von ihrem ersten Arbeitstag. Florian ist bewusst, wie wichtig es ist, alte Menschen an ihre Vergangenheit zu erinnern.
Personen: Florian Nowitzki (Pfleger), Frau Kaiser (Bewohnerin des Seniorenheims) Ort: Gemeinschaftsraum im Seniorenheim |
Florian Nowitzki: | Hallo, Frau Kaiser. Wie war das Mittagessen? |
Frau Kaiser: | Danke, sehr gut. Es gab Fleisch mit gekochtem Gemüse und Reis, einfach mein Lieblingsessen. |
Florian Nowitzki: | Gut. Und… was lesen Sie denn da Schönes, Frau Kaiser? |
Frau Kaiser: | Das ist ein Buch über eine Gruppe junger Mädchen, die in den 50ern in einer Mühle gearbeitet haben. Manche waren noch sehr jung. |
Florian Nowitzki: | Wie alt waren Sie, als Sie angefangen haben zu arbeiten? |
Frau Kaiser: | Ich war fünfzehn, das war damals ganz normal. |
Florian Nowitzki: | Können Sie mir von Ihrem ersten Arbeitstag erzählen? Wie war das damals? |
Frau Kaiser: | Aber natürlich! Ich erzähle gerne aus meinem Leben. An meinen ersten Arbeitstag kann ich mich noch ganz gut erinnern, es war kurz nach meinem 15. Geburtstag. Und wie die meisten Schüler damals habe ich an einem Freitag die Schule beendet und am Montag habe ich sofort angefangen zu arbeiten. |
Florian Nowitzki: | Sie hatten also gar keine Ferien dazwischen? |
Frau Kaiser: | Ah, wo! Wir hatten damals gar kein Geld für Ferien. Die meisten Leute hatten keins. |
Florian Nowitzki: | Und wo haben Sie gearbeitet? |
Frau Kaiser: | Ja, meine erste Arbeitsstelle war in Fulda, in der Reifenfabrik. Meine Mutter hatte dort damals schon über 20 Jahre lang gearbeitet und da hab‘ ich auch angefangen. |
Florian Nowitzki: | Hat sie gewollt, dass Sie dort arbeiten? |
Frau Kaiser: | Ja, das war ihre Idee. Sie hat immer gesagt: „Wenn die Stelle für mich gut ist, muss sie auch für dich gut sein.“ |
Florian Nowitzki: | Und wie verlief so Ihr erster Arbeitstag? |
Frau Kaiser: | Ich habe die Fabrik schon eine Woche vorher besucht und dabei gleich auch die wichtigste Person – den Chef – getroffen. Sein Name war Herr Voith und ich glaube, der hat mich nicht sehr gemocht. Zumindest in der Zeit, als ich gerade angefangen habe. |
Florian Nowitzki: | Wirklich? Warum denn? |
Frau Kaiser: | Wir mussten immer um 6 Uhr mit der Arbeit beginnen, was für mich sehr anstrengend war. Wir sollten etwa 60 Reifen pro Stunde bearbeiten, in dem wir mit einer Maschine den überflüssigen Gummi wegschneiden mussten. |
Florian Nowitzki: | Das hört sich sehr anstrengend an. |
Frau Kaiser: | Ja, das war es auch. Aber nachdem ich dann dort schon länger gearbeitet hatte und mich an die Arbeit gewöhnt hatte, konnte ich den neuen Mädchen sogar helfen. So schnell war ich schon. |
Florian Nowitzki: | Und wie ging es weiter? |
Frau Kaiser: | Na ja, nachmittags kam Herr Voith immer in die Fabrikhalle und hat nachgeschaut, wie viele Reifen die Frauen produziert haben. Die meisten hatten zweihundertfünfzig und ich nur hundertfünfzig. |
Florian Nowitzki: | Oh, dann haben Sie wohl Probleme bekommen, oder? |
Frau Kaiser: | Ja, klar, er schimpfte mich vor den ganzen Mitarbeiterinnen. Er sagte, er hätte noch nie in seinem Leben so eine langsame Arbeiterin gesehen. Er sagte auch immer, ich muss mehr Gas geben, sonst wird er mich feuern. |
Florian Nowitzki: | Sie hätten also Ihre Arbeit verlieren können? |
Frau Kaiser: | Ja, genau. |
Florian Nowitzki: | Waren Sie verärgert? |
Frau Kaiser: | Natürlich. Ich arbeitete ja so schnell wie ich konnte, den ganzen Tag lang. Meine Maschine ist immer erst mittags stehen geblieben. |
Florian Nowitzki: | Und dann? Wie ging die Geschichte weiter? |
Frau Kaiser: | In der Mittagspause setzte sich eine der Frauen zu mir, sie hieß Ina. Und sie erzählte mir, Herr Voith wäre immer gemein zu den neuen Mädchen. |
Florian Nowitzki: | Und ging es Ihnen danach besser? |
Frau Kaiser: | Ja, ich dachte, wenn er mich wieder ausschimpft, dann kündige ich einfach. |
Florian Nowitzki: | Haben Sie es dann gemacht? |
Frau Kaiser: | Nein, nein. Stell dir vor, ich bin dort mehr als 20 Jahre lang geblieben. |
Florian Nowitzki: | Hut ab, das muss schon hart gewesen sein. |
Frau Kaiser: | Ja, aber ich hatte auch nette Kolleginnen. Sie haben mir am Anfang immer ein paar von ihren Reifen gegeben, damit ich die Norm erfülle. |
Florian Nowitzki: | Das war sehr nett von ihnen, oder? |
Frau Kaiser: | Ja, das war es. Ich machte es später, als ich schon schnell genug war, genauso. Ich habe den neuen Mädchen auch geholfen. |
Florian Nowitzki: | Schön. Haben Sie dort auch Ihren Mann kennengelernt? |
Frau Kaiser: | Ja. Er hatte dort schon zwei Jahre lang gearbeitet, als ich dazu kam. |
Florian Nowitzki: | Dauerte es lange, bis Sie ihn zum ersten Mal getroffen haben? |
Frau Kaiser: | Nein, ich war gerade 4 Monate in der Fabrik, als ich ihn kennengelernt habe. Er ist immer in unsere Abteilung gekommen und hat die Maschinen kontrolliert. Er hat mich aber nie angesprochen. Einmal hat mir eine ältere Kollegin gesagt, dass er mich gerne ins Kino einladen möchte. |
Florian Nowitzki: | Und Sie sind gegangen, oder? |
Frau Kaiser: | Nein, natürlich nicht. Das war damals nicht üblich. Erst beim dritten Mal bin ich mitgegangen. |
Florian Nowitzki: | Ah, und wann haben Sie ihn geheiratet? |
Frau Kaiser: | An meinem 18. Geburtstag. Wir waren über fünfzig Jahre lang verheiratet. |
Florian Nowitzki: | Das ist eine sehr lange Zeit. |
Frau Kaiser: | Wir waren glücklich. Mein Mann hat mir später erzählt, er hätte gleich beim ersten Mal, als er mich gesehen hat, schon gewusst, dass er mich heiraten will. |
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